Christine Miller: Ohne Almwirtschaft kommt es zu einer artenarmen Landschaft

… die Diplombiologin Dr. Christine Miller leitet als beeidete Sachverständige für Jagd, Wildtiere und Naturschutz zwei Büros für Wildbiologie in Österreich und Bayern. Unser Almfuchs hat die renommierte Gutachterin und Autorin des Sammelbandes „Der Wolf im Visier“ (Athesia 2022) zum Interview gebeten.

Wann wird der Wolf zu einer Bedrohung für den Artenschutz anstatt zum Symbol desselben?
Christine Miller: Einer der Schlüssel für Biodiversität und Artenvielfalt sind alte, extensive Weidesysteme. Mit dieser landwirtschaftlichen Nutzung haben sich über Jahrtausende vielfältige Artensysteme entwickelt. Wir haben bereits jetzt nur noch kleinste Reste dieser ursprünglichen Vielfalt. Werden durch das Auftreten von Wölfen die letzten Reste dieser Weidenutzung aufgegeben, ist das für den Naturschutz eine Katastrophe.

Genauso müssen Herdenschutzmaßnahmen, ob Hund, Nachtpferch oder gar großflächige Weidezäune auch auf ihre Auswirkungen auf andere Arten überprüft werden. Bisher wurde das meines Wissens nirgendwo durchgeführt und so getan, als ob 500-Volt-Zäune selbst über Bachläufe hinweg absolut kuschelig für alle anderen vorkommenden Arten wären. Das sind sie aber nachweislich nicht.

Apropos Herdenschutz: Hier scheiden sich die Geister. Sie machen hier eine Art Graben zwischen der Land- und Stadtbevölkerung aus. Wie könnten diese Gräben überwunden werden?
Christine Miller: Unterschiedliche Sichtweisen kommen zustande, weil Menschen unterschiedliche Erfahrungen haben und teilweise, weil sie auch unterschiedliche Werte haben. Ich glaube, dass Menschen in den Städten, genauso wie auf dem Land die Natur grundsätzlich wertschätzen. Aber in der Stadt habe ich eben ganz andere und das heißt meist gar keine eigenen Erfahrungen mit Wölfen. Ich bin davon überzeugt, dass nur durch einen respektvollen, ehrlichen gegenseitigen Austausch über die Erfahrungen und Sorgen und durch den Kontakt mit der tatsächlichen Lebenswirklichkeit auf landwirtschaftlichen Betrieben ein gutes Gesprächsklima entsteht und der Konflikt, Stadt-Land entschärft werden kann.

Sie fragen in einem Artikel „Wie viel kostet der Wolf?“
Christine Miller: Ich habe versucht herauszustellen, dass es viele Kostenpunkte gibt. Einige Ausgaben sind gut angelegt und kommen einem besseren Umgang mit unserer Kulturlandschaft und ihren Bewohnern zugute. Andere Kosten werden einseitig auf betroffene Gruppen, wie zum Beispiel Almbauern geschoben. Das hat natürlich weitreichende Folgen für die Pflege von Kulturlandschaft und damit auch für die Biodiversität. Und schließlich gibt es auch gesellschaftlich-politische Kosten. Wenn eine Bevölkerungsgruppe ohne breite gesellschaftliche Diskussion bestimmte Vorstellungen durchsetzen will. Darin sehe ich auch eine Gefahr für eine aufgeklärte Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Wie viel kostet der Wolf nun tatsächlich und wen treffen die Kosten?
Christine Miller: Das habe ich in einem Aufsatz genau aufgeschlüsselt. Auch die gesellschaftlichen Kosten wurden in wissenschaftlichen Studien untersucht. Was passiert, wenn sich die extensive Weidehaltung aus den letzten Gebieten zurückzieht, können wir in ganz Europa und im Alpenraum beobachten. Die Verluste für die Biodiversität sind enorm. Das ist es, was mich als Biologin natürlich am meisten besorgt. Extensive Weidesysteme gibt es seit dem Rückzug der Gletscher. Das ist Teil unseres kulturellen Erbes. Ohne Almwirtschaft kommt keine tolle Wildnis zustande, sondern artenarme Wüste.

Gibt es dafür Beispiele?
Christine Miller: Schauen Sie nur auf die aufgegebenen Weideflächen in den Westalpen. Bereits bevor der Wolf dort einwanderte, gab es eine dramatische Landflucht. Die Folgen der Aufgabe der kleinen Betriebe ist gut dokumentiert und zeigt uns, was nun auch im großen Stil folgen kann.

Apropos Westalpen. Sie haben sich die Wolfspolitik in Frankreich sehr genau angeschaut und nehmen dabei auf einschlägige aktuelle Studien Bezug. Was zeigen diese?
Christine Miller: In Frankreich hat man die längsten Erfahrungen mit Wölfen in almwirtschaftlich genutzten Gebieten. Dort ging man durch drei Phasen. Zuerst, als die Wolfspopulation noch klein war, setzte man auf Herdenschutz als wirksame Abwehrmaßnahme. Die Wölfe haben sich darauf gut eingestellt und können mit Herdenschutzhunden „umgehen“. Dann wurden Wolfsjagden organisiert, um den Zuwachs der Population zu beschränken. Auch das hatte nur begrenzten Erfolg. Denn bald war klar, dass es durchaus Wölfe gibt, die scheu sind und die weniger Probleme verursachen als die forscheren, aggressiveren Tiere, die sich immer wieder Herden näherten. Inzwischen gibt es neben einer angestrebten Höchstzahl an Wölfen auch die Möglichkeit Wölfe zu erlegen, die sich Herden nähern. Bisher scheint dieser Ansatz am erfolgversprechendsten zu sein, um der Almwirtschaft in Frankreich das Überleben zu ermöglichen.

Was wären aus ihrer Sicht auf unseren Raum (Österreich, Bayern, Südtirol) anwendbare Erkenntnisse?
Christine Miller: Der Vorteil in Frankreich ist deren gut ausgebautes System des Wildtiermanagements. Das gibt es in dieser Art in Deutschland und Österreich nicht, obwohl wir sehen, dass auch wir diese Strukturen bitter bräuchten – für alle unsere Wildtiere und den Umgang mit ihnen. Ein gutes System von unabhängigen Wildtierbeauftragten, die sich nicht nur um einige „Lieblingsarten“ kümmern, sondern die transparent und fachkundig die Daten sammeln und Vorschläge für ein vertrauensvolles Wildtiermanagement geben, das wäre für uns generell ein Gewinn. Da ist bei uns noch sehr viel Luft nach oben!

Strikte Gegner der Bejagung von Wölfen berufen sich auf den strengen Schutzstatus desselben, der aus gutem Grund bestehe und auch weiterhin unbedingt nötig sei. Wie sehen Sie das?
Christine Miller: Die Einstufung des Wolfes in die Kategorien der FFH-Richtlinie sind ein unglaubliches Politikum. Nach wissenschaftlichen Kriterien gibt es eigentlich keinen Grund mehr für die Einstufung in die hohe Schutzkategorie. Die Wolfspopulation Mittel- und Osteuropas ist weder bedroht noch hat sie schlechte Zukunftsaussichten. Eine regelmäßige Entnahme von Wölfen, vulgo Jagd, hätte nachweislich keinen merkbaren Einfluss auf die Populationsentwicklung, die Ausbreitung und den Erhalt der Art.

Das wird ja auch von Gegnern der Jagd als Argument gebracht, dass die Ausbreitung der Wölfe nicht durch Bejagung aufzuhalten sein wird, die Jagd also sozusagen sinnlos sei. Macht es aus ihrer Sicht dennoch Sinn, Wölfe zu bejagen?
Christine Miller: Die Jagd hat zwei Auswirkungen, sie kann unter Umständen den Zuwachs bremsen. Und, was vermutlich viel wichtiger ist, sie kann das Verhalten der Wölfe beeinflussen. Jedes halbwegs intelligente Tier passt sein Verhalten an die Risiken an, die es in seinem Lebensraum erfährt. Je mehr Menschen als Risiko wahrgenommen werden, desto mehr werden Menschen und ihr Umfeld gemieden. Wölfe haben keine „natürliche“ Scheu. Die können sie aber dort beobachten, wo Wölfe bejagt werden. Dort sind Menschen gefährlich. Und wenn Menschen mit Weidetieren sehr gefährlich sind, werden diese von den Wölfen auch gemieden.

Vielen Dank für das Gespräch!

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