Dr. Michaela Skuban hat über viele Jahre das Verhalten von Bären, Wölfen und Rothirschen in der Slowakei und Polen beobachtet und intensiv wissenschaftlich erforscht. Dabei hat sie immer mit den Schäfern zusammengearbeitet und in der Slowakei auch Herdenschutzhunde betreut. Wie wenige sonst kennt sie die Herausforderungen und Konfliktpotentiale, wenn sich Großraubtiere an den Rändern der menschlichen Zivilisation ansiedeln. Seit einigen Monaten hat Dr. Skuban ihren Wirkungskreis ins Tiroler Oberland verlegt. Die Ängste und Probleme der Menschen vor Ort zu verstehen, sei ihr ein zentrales Anliegen. Unser Almfuchs hat sie zum Interview gebeten.
Was sind die wichtigsten Erkenntnisse aus ihrer Arbeit in der Slowakei und Polen mit den Bären und Wölfen dort?
Michaela Skuban: Bären und Wölfe sollte man nicht unbedingt miteinander vergleichen, da Wölfe reine Fleischfresser und Bären Allesfresser sind und ein breiteres Spektrum haben. Generell kann man sagen, dass diese Tiere viel individueller sind, als wir denken, und es eigentlich nicht DEN WOLF oder DEN BÄREN gibt. Unsere langjährige Beobachtung zeigt, dass jedes einzelne Tier seine eigene Strategie hat, um draußen im Feld zu überleben.
Gerade im Hinblick auf die Frage, wie viel Schaden produzieren Großsäugetiere, ist das sehr wichtig: wir hatten Bären, die systematisch Maisfelder geplündert haben und sogar mehrere Tage die Felder nicht verlassen haben, andere Tiere waren fast nur im Wald und somit sehr unauffällig. Bei den 15 besenderten Wölfen in der Slowakei hatten wir leider drei Tiere dabei, die intensiv Weidetiere bejagt haben. Aufgrund der neuen Gesetzgebung in der Slowakei wurden sie nicht entfernt und haben somit den Leuten viel Schaden gemacht. Eine Wölfin in Polen gehörte einem „katastrophalen Rudel“ an mit sehr dreister Nutztierbejagung teilweise mitten im Dorf. Der zweite Wolfsrüde war ein Einzeltier und komplett unauffällig.
Ich habe über vielen Jahre hinweg gelernt, was ein geeignetes und ein ungeeignetes Habitat für diese Wildtiere sein kann, hierbei geht es vor allen Dingen darum, ob es genug Futter aber auch genug Rückzugsmöglichkeiten gibt. Die einzelnen Parameter sind viel detaillierter als nur Wald – Wiese – Feld, das wird oft einfach übersehen.
Welche dieser Erkenntnisse sind auch für ihr Engagement in Tirol maßgeblich?
Michaela Skuban: Es wäre sehr wichtig, die einzelnen Tiere besser zu kennen und zu versuchen, mit vielen Leuten hier vor Ort (gerade Förster, Jäger, Weidetierhalter) die Individuen zu beobachten. Es muss also nicht sein, dass jeder neue Bär oder Wolf Probleme macht, aber man kann es natürlich auch nicht pauschal ausschließen.
Ich versuche, in meinem Einsatzgebiet die generelle Habitateignung zu beurteilen, gerade für den Bären. Hierbei geht es aber immer um viel mehr als nur die Futterverfügbarkeit zu welcher Jahreszeit. Gerade der Bär braucht gute Rückzugsmöglichkeiten, um sich vor uns vor allem untertags zu verstecken. Hat er solche Rückzugsmöglichkeiten nicht, kann selbst das produktivste Habitat ungeeignet sein. Teilweise sind aber geeignete Rückzugsmöglichkeiten viel kleinschichtiger, als man denkt: gerade dichtes Buschwerk, oder undurchdringbare, junge Forststände können dem Bären auch in einer Kulturlandschaft genügen. Das haben wir am Anfang unserer Telemetriestudie gar nicht erwartet.
Wo sehen sie die größten Unterschiede in der jeweiligen Ausgangssituation zwischen Tirol und ihren vorherigen Forschungsgebieten?
Michaela Skuban: Neben vielen geographischen Unterschieden, wie das Hochalpine hier in Tirol und der meist Mittelgebirgsstruktur der Slowakei, liegt meiner Meinung nach der größte Unterschied in der Einstellung der betroffenen Menschen, die aber entscheidend sein kann. In der Slowakei gibt es weit mehr Tourismus und Urbanisation, als man erwarten würde und das Zusammenleben von Menschen und Raubtieren ist oft anstrengend, viel schwieriger als es manchmal zu lesen ist. Dennoch kennt man die Raubtiere, in vielen Gebieten wachsen Menschen von klein auf mit dieser potentiellen Gefahr auf.
Kommen Raubtiere jedoch zurück, dann treffen sie auf Menschen, die es eben nicht mehr kennen, dass im Wald der Bär oder Wolf zu Hause ist. Das macht Angst und vielleicht sogar wütend, dass „man jetzt nicht mehr rausgehen kann“. In meinem Beruf muss ich das sehr gut verstehen und immer auf der Seite der betroffenen Leute bleiben. Ich kann den Menschen in Tirol nicht sagen „im Osten geht es doch auch“, sondern muss die Bedingungen hier vor Ort genau verstehen und gerade die Menschen (und die Situation der Weidetiere) sind für mich hierbei entscheidend.
Heißt das, die Ängste von Menschen in betroffenen Regionen sollten nicht als „irrational“ oder „übertrieben“ vom Tisch gewischt, sondern ernst genommen werden?
Michaela Skuban: In Gebieten, in denen Raubtiere nach langer Zeit der Abwesenheit wieder zurückkehren, ist es außerordentlich wichtig, die Menschen ernst zu nehmen. Ich glaube, dass in Tirol eine eventuelle Akzeptanz von Raubtieren maßgeblich über die Menschen und die Zukunft der Weidetiere geht. Wenn man das nicht versteht, kann man nicht gut arbeiten.
Wie schätzen Sie die aktuellen Auswirkungen von Großraubtieren auf die Nutztierhaltung insbesondere auf unseren Almen ein?
Michaela Skuban: Es wäre schlichtweg gelogen, zu sagen, dass die Präsenz von Raubtieren keine negativen Auswirkungen auf die Almwirtschaft hat. Leider gehen manche Raubtiere den Weg des geringsten Widerstands und reißen einfach hilflose Schafe oder Ziegen, gelegentlich auch Rinder oder gar Pferde. Deswegen ist für mich der Kontakt zu Weidetierhalten so wichtig und ich bin ihnen dankbar für ihre Hinweise.
Ich durfte in Ländern arbeiten, in denen es eine, über lange Zeiten gewachsene, Hirtenkultur gibt, die leider aber auch aufgrund wirtschaftlicher Faktoren im Wackeln ist. Ich bin überzeugt, dass man die Almbauern mehr unterstützen muss. Generelle Aussagen wie, „dann sollen sie halt Herdenschutz machen“ missfallen mir, da der einzelne Weidetierhalter mit seinen speziellen Bedingungen hierbei untergeht. Wir haben in der Slowakei sehr individuell mit den Schäfern gearbeitet, was mir hier vor Ort nicht so vorkommt. Wir haben aber auch offen darüber gesprochen, dass es einfach auch Grenzen von Schutzmaßnahmen gibt, und man Weidetiere nicht hermetisch einriegeln kann.
Weidetierhalter haben schon so viele andere Probleme und da kommt das unbeliebte Raubtier noch oben mit drauf. Touristen sind manchmal arrogant, reizen die Tiere, schmeißen Abfall weg, „erleichtern“ sich in Wiesen usw. Das Gelände ist schwierig, und die Wetterbedingungen sind harsch und rau, abgesehen davon, dass die Tage lang und anstrengend sind. Da gibt es keinen Sommerurlaub, kein Wochenende, keine Ausgehtage usw. Viele Menschen sehen diese Beschwerlichkeiten nicht, sondern erwarten, dass der Weidetierhalter mal schnell Herdenschutz macht, damit der Wolf hier im Alpenraum dableiben kann. Es gibt leider keine Patentlösung für diese neue und teilweise auch zermürbende Situation. Es hängt auch davon ab, wie sehr sich Weidetierhalter verstanden fühlen und ob sie dann auch diesen Prozess mittragen wollen und können.
Ich kenne Schäfer aus der Slowakei, die vor allen Dingen die psychische Belastung, also diese ständige Angst, dass etwas passieren könnte, am meisten beklagen. Ich glaube, wenn die Gesellschaft nicht den Wert der Arbeit der Almbauern versteht, handelt es sich immer um „Ping-Pong-Diskussionen“ so quasi Herdenschutz ja oder nein. Auffällige Tiere sollten umgehend entnommen werden, da man so die Bevölkerung beruhigen kann und ihnen zeigt, dass ihre Anliegen ernst genommen werden.
Es ist für mich noch zu früh, um sagen zu können, was denn am besten wäre. Außerdem hängt das auch maßgeblich von den Weidetierhaltern ab und ihren entsprechenden Bedingungen draußen auf ihrem Betrieb.
Wenn sie könnten, wie sie wollten, was würden sie zuallererst verändern in der ganzen komplexen „Bär/Wolf-Problematik“?
Michaela Skuban: Im Moment sehe ich ein großes Problem darin, dass die Fronten so verhärtet sind. In den Medien finden „Gladiatorenkämpfe“ zwischen Wolfsbefürwortern und -gegnern statt. Das bringt den Menschen hier in den betroffenen Gebieten gar nichts. Man protestiert medienwirksam in Großstädten für die Existenz der Wölfe und das war es dann auch schon.
Ich muss jetzt auch eine Lanze für meine Zunft der Wildbiologie brechen, wir versuchen draußen in der freien Natur das Verhalten von Wildtieren zu analysieren und in einen Kontext zu setzen. Wir vertuschen nicht, im Gegenteil, wir möchten offen und ehrlich über Schwierigkeiten in der Koexistenz mit Raubtieren diskutieren. Da geht es nicht um einen Facebook Beitrag, so quasi, wir haben es den Leuten gezeigt. Außerdem dauern wildbiologische Studien mitunter sehr lange und sollten neue Situationen, wie jetzt in Tirol, begleiten, damit man auch auf Schwierigkeiten reagieren kann. Es ist nicht nur wichtig, wie viele Raubtiere da sind, sondern wie sie sich draußen verhalten.
Ich wünsche mir, dass die betroffenen Menschen endlich einmal wieder miteinander reden. Vielleicht kann man dann versuchen, zumindest lokal etwas zu verbessern. Wie ein Kompromiss aussehen wird, kann man wahrscheinlich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht wissen. Die jetzige hitzige Diskussion führt zu gar nichts, nur zu Beleidigungen, Frust und Unmut.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Foto: Michaela Skuban
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