„Die Bedrohung durch Wölfe kann das Fass zum Überlaufen bringen.“

…Das große Interview mit Alpenforscher und Autor Werner Bätzing (Teil 1). Unser Almfuchs hat einen wahren Almexperten zum Interview getroffen: Werner Bätzing räumt mit falschen Annahmen über die Zukunft der Almenwelt auf, klärt über Gefahren für den Fortbestand der Almwirtschaft auf und spricht außerdem über den Tourismus auf der Alm. Das ist Teil 1 des Interviews.

Vorab: zur Person Werner Bätzing
Als emeritierter Professor für Kulturgeographie am Institut für Geographie und Geowissenschaften der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, forscht, lehrt und veröffentlicht Bätzing vor allem zum Thema Alpen. Seine Fachgebiete umfassen dabei unter anderem:

  • Gebirgsforschung
  • die regionale Geographie des Alpenraums
  • Bevölkerungs- und Wirtschaftsgeographie, darunter
  • Agrar- und Tourismusgeographie.

Werner Bätzing hat die Alpen systematisch erforscht. Nicht in erster Linie und schon gar nicht nur vom Schreibtisch aus, sondern, wie er selbst sagt: „mit seinen Füßen“. Bätzing leitet das Archiv für integrative Alpenforschung und kann eine stolze Liste an Publikationen zu den Themenbereichen „Alpen“, „Ländliche Räume“ und „Mensch-Umwelt-Geschichte“ vorweisen. (Alle Veröffentlichungen von Werner Bätzing findet ihr hier)

Porträt Werner Bätzing
Bücher von Werner Bätzing

Was hat Sie als Erforscher und „Er“-Wanderer der Almen und Alpen am nachhaltigsten beschäftigt und beeindruckt

Wenn man in den Alpen wandert, dann trifft man oft auf folgende Situation: Man verlässt den Talboden mit seinen Weilern und Einzelhöfen, steigt lange Zeit im Wald immer steiler bergauf und trifft dann plötzlich unterhalb der Gipfel auf einmal auf weitläufige Weideflächen mit Rindern, Schafen und Häusern. Diese kleinen, menschlich geprägten Welten inmitten von Felsen, Wäldern und Abhängen haben mich von Anfang an fasziniert. Sie haben früh in mir die Frage geweckt, wie es den Menschen gelungen ist, hier oben zu leben und zu wirtschaften.

Unsere Almen blicken auf eine mehrtausendjährige Geschichte zurück. Welche Gefahren für das Weiterbestehen dieser Tradition sehen Sie?

Die Almwirtschaft ist eine extensive Wirtschaftsform. Ein solches Wirtschaften gilt heute als überholt, weil alle (Land-)Wirtschaftsbetriebe entweder möglichst intensiv wirtschaften, um der weltweiten Konkurrenz gewachsen zu sein, oder ihren Betrieb einstellen, wenn das nicht möglich ist. Gegenüber der industrialisierten Viehwirtschaft im Tiefland produziert die Almwirtschaft relativ teuer (hohe Personalkosten), ihr Ertrag kann durch den Einsatz von Technik kaum gesteigert werden (wenig Maschineneinsatz möglich), und sie bewirtschaftet sehr periphere Standorte (hohe Transportkosten): Deshalb ist ihre Rentabilität relativ gering.

Aus rein wirtschaftlicher Sicht hat die Almwirtschaft deshalb keine Zukunft. Sie ist bedroht – nicht nur in Tirol und Österreich, sondern im gesamten Alpenraum und darüber hinaus in allen Gebirgen der Welt, wo es Almwirtschaft gibt. Ihr geht es damit ähnlich wie den anderen Formen einer extensiven Viehwirtschaft auf der Erde wie Transhumanz, Rentiernomadismus oder Groß- und Kleinviehnomadenmus.

Welche Konsequenzen kann es haben, wenn sich die Almwirtschaft nicht rechnet?

Wir finden die vier klassischen betriebswirtschaftlichen Reaktionen, wie sie auch in der übrigen Wirtschaft zu finden sind:

  1. Die Einstellung der Almwirtschaft und die Nichtnutzung der Almfläche (Verwilderung der Almen, meist Verbuschung und Verwaldung).
  2. Die Vereinfachung der Nutzung, um Kosten (vorwiegend Personalkosten) zu reduzieren (Einstellung der traditionellen Almpflegearbeiten).
  3. Die Intensivierung der Nutzung durch die Alpung von Hochleistungstierrassen, Zufütterung von Kraftfutter auf der Alm, Düngung von Almflächen, Einsatz von Unkrautvernichtungsmitteln (Übernutzung von Almflächen). Und
  4. die Verdrängung der Almwirtschaft auf attraktiven Standorten durch ertragreichere Wirtschaftsformen, nämlich Tourismus („Almdorf seinerzeit“ u.ä.).

Wäre es nicht besser, gerade angesichts der Klimaproblematik, die Alpen würden wieder großflächig mit Wäldern zuwachsen?

Die Menschen, die diese Position vertreten (meist sind es Städter), gehen davon aus, dass der Wald als CO₂-Speicher am effektivsten ist und jede Rinderhaltung wegen des Methanausstoßes das Klima stark belastet. Beides stimmt jedoch nicht.

Erstens können die Böden einer humusreichen und gepflegten Weidefläche 40% mehr CO2 speichern als Waldböden, was durchaus nicht unwichtig ist. Zweitens gilt das Argument der Methanbelastung nur für die industrielle Massentierhaltung mit ihren Hunderten von Tieren pro Betrieb, nicht jedoch für die Almwirtschaft, wo relativ wenige Rinder auf sehr großen Flächen weiden. Und noch etwas ist sehr wichtig für den Klimawandel: Wenn Almen aufgelassen werden, dann breiten sich schnell flächendeckend Grünerlen aus, die viele Jahrzehnte lang die dominante und sehr artenarme Vegetationsdecke bilden; diese Grünerlen geben große Mengen an Lachgas an die Atmosphäre ab, und Lachgas ist noch schädlicher als Methan.

Umgekehrt gefragt: Können uns vielleicht unsere Almen Antworten aufzeigen für die Herausforderungen des Klimawandels?

Eine extensive Viehwirtschaft, die umweltverträglich betrieben wird, wirkt sich auf den Klimawandel positiv aus, weil sie mehr CO₂ bindet als freisetzt. Und wenn man zusätzlich die Klimasituation berücksichtigt, die entsteht, wenn die Almwirtschaft eingestellt würde und die Almflächen mit Grünerlen verbuschen würden, dann wird die Fortführung der Almwirtschaft wichtig, um den Klimawandel zu dämpfen. Nicht der Rückzug des Menschen aus der Natur, sondern die flächenhafte Ausbreitung von extensiven, umweltverträglichen und nachhaltigen Wirtschaftsformen ist die angemessene Antwort auf die Klimaerwärmung.

Neben dem Klimawandel gilt das Artensterben für viele Wissenschaftler als zweite große globale Gefahr. Sollte sich da nicht die Almwirtschaft Schritt für Schritt zurückziehen und ihre bisher beanspruchten Flächen der Natur/Wildnis überlassen, wie es gewisse Naturschutzgruppierungen ganz offen fordern?

Auch diese heute so populäre Sichtweise ist falsch: Die Wälder im Alpenraum sind sehr jung, weil sie erst nach dem Ende der letzten Eiszeit wieder in die Alpen eingewandert sind. Deshalb sind die Wälder der Alpen ziemlich artenarm (es gibt nur 8 Nadel- und etwa 40 Laubbaumarten, darunter keine einzige endemische Art), und die subalpinen Wälder, auf deren Gebiet viele Almen liegen (Rodungsflächen), sind aufgrund der Höhe besonders artenarm (oft von Natur aus reine Fichtenwälder). Die größte biologische Vielfalt findet sich im Alpenraum in den Rasengesellschaften, weil diese Pflanzen viele Eiszeiten in den Alpen überlebt und im Laufe der langen Zeit und dank Verinselung durch die eiszeitlichen Gletscher eine riesige Vielfalt ausgebildet haben. Die meisten der mehr als 300 „Endemiten“ der Alpen (Pflanzenarten, die nur in einem kleinen abgegrenzten Gebiet und sonst nirgendwo vorkommen) stammen aus den alpinen Rasen, der Ausgangsvegetation der Almwirtschaft. Wenn sich der Mensch aus den Alpen zurückzieht und diese verwildern, also verbuschen und verwalden, dann geht die Artenvielfalt sehr deutlich zurück.

Dieselben Gruppierungen sehen in den großen Raubtieren willkommene Botschafter der Artenvielfalt. Teilen Sie diese Ansicht?

Nein, das Gegenteil ist der Fall: Die Almwirtschaft kann sich aufgrund der alpinen Verhältnisse nie vollständig gegen den Wolf absichern. Und in einer Zeit, in der die Almwirtschaft ohnehin stark unter Druck steht (geringe Rentabilität, hoher Druck durch Freizeit und Tourismus), kann die Bedrohung durch Wölfe das Fass zum Überlaufen bringen, also zum letzten Anstoß werden, um die Almwirtschaft aufzugeben. Und dann geht die Artenvielfalt auf diesen Flächen deutlich zurück und das Landschaftsbild wird eintöniger und monotoner. Der Wolf reduziert die Artenvielfalt, die in den Alpen nicht in der Wildnis, sondern in den Kulturlandschaften am größten ist.

Foto: U. Hanzig

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