Die Äußere Steiner Alm in Osttirol als Ort zur Selbstfindung

…Ein Sozialprojekt führt Jugendliche auf die Äußere Steiner Alm in Matrei in Osttirol. Dort nehmen die Heranwachsenden aktiv am Almleben und dem Arbeitsalltag teil und vieles für ihr Leben mit.

Im Herbst 2019 entstand die Idee ein Projekt ins Leben zu rufen, bei dem Jugendliche für einige Wochen auf die Äußere Steiner Alm auf 1.909 Metern Seehöhe oberhalb von Matrei in Osttirol kommen. Sie sollen bei den täglichen Arbeiten auf der Alm mithelfen. Ein großes Ziel bzw. Anliegen während dieser Zeit ist es, die Handynutzung der Jugendlichen zu reduzieren, sich auf sich selbst und die Almgemeinschaft zu konzentrieren und einmal ohne Ablenkung und Dauerbeschallung in einfachen Verhältnissen zu leben. Der Text stammt von Sonja Zauner und Martin Traunmüller, den Pächtern der Äußeren Steiner Alm. Er ist 2023 in der August/September-Ausgabe der Fachzeitschrift „Der Alm- und Bergbauer“ erschienen.

Wir, Sonja und Martin, kommen aus der Sozialarbeit mit Jugendlichen. Diese Tätigkeit war der Grundstock für das 2023 zum dritten Mal laufende Sozialprojekt auf der von uns gepachteten Äußeren Steiner Alm in Matrei in Osttirol. Als Projektpartner konnten wir die Agrargemeinschaft Nikolsdorf als Eigentümerin der Alm und den Jokerhof Tollet von Fokus Mensch in Oberösterreich gewinnen. Der Jokerhof Tollet bietet berufliche Qualifizierung sowie Wohnen für junge Menschen mit Förderbedarf an. Die Jugendlichen werden begleitet und unterstützt, um nach Abschluss der Pflichtschule, durch Arbeits- und Persönlichkeitstraining selbständig, unabhängig und erwachsen zu werden.

Großer Viehbestand auf der Äußeren Steiner Alm
Die Äußere Steiner Alm liegt auf 1.909 Metern Seehöhe mit Blicken auf die Kalser Höhe und den Tauern-Hauptkamm. Sie ist eine Hochalm mit 700 Hektar Almfläche. Heuer weiden auf der Alm 77 Jungrinder und Ochsen, 14 Pferde und rund 400 Schafe und Ziegen. Bei der Almhütte werden Hühner, Enten, Gänse, Puten, Wachteln und Schweine gehalten. Für das seelische Wohl in der Hütte sorgen auch noch zwei Katzen und zwei Hunde.

Das Almtal liegt geschützt, ohne wirkliche Gefahrenbereiche, in einem Halbbogen in den Osttiroler Bergen im Gemeindegebiet von Matrei und ist abgeschirmt vom Alltag und der Hektik im Tal und in der Stadt. Im Herbst 2019, unserem ersten Almsommer, gab uns die Ruhe und Stille den Impuls, Jugendliche vom Jokerhof Tollet auf die Alm zu holen.

Jugendliche erstmals 2020 auf die Alm gekommen
Die Idee wurde bei der Einrichtungsleitung sogleich sehr positiv aufgenommen und das Projekt wurde konzipiert. Im Sommer 2020 starteten wir mit der ersten Gruppe. Der beste Termin für die sehr intensive Betreuung der Jugendlichen ist vor der eigentlichen Almsaison. Wir begannen also im Mai, sodass am 1. Juni mit Saisonstart die Gruppe wieder abreisen konnte. Das Projekt wurde auf insgesamt fünf Wochen angesetzt: Drei Wochen im Frühjahr, in denen die Zäune aufgebaut, repariert und ausgebessert, die Almhütte ausgewintert und die Stallungen für die Tiere vorbereitet werden. Und zwei Wochen im Herbst, in denen es genau andersherum verläuft. Zäune werden abgebaut, Stallungen ausgemistet, die Almhütte wieder „in den Winterschlaf gelegt“, für uns also eine runde Sache.

Kein Handy, kein Fernsehen, kein Radio
Es gibt dabei Regeln, an die sich alle halten müssen, da sich das Leben auf der Alm in 1.909 Metern Seehöhe in vieler Hinsicht vom Leben im Tal unterscheidet. Kein Fernsehen, kein Radio, kein Handyempfang und somit auch keine sozialen Medien. Zum Duschen stehen allen zusammen nur 300 Liter Warmwasser zur Verfügung. Wer also zu lange duscht, lässt den anderen sprichwörtlich „im kalten Regen stehen“. Selbstverständlich gibt es hier auch keinen Lieferservice für Pizza oder Kebab und keine Schnellrestaurants. Es gibt nur Dinge, die es eben gibt. Aus den Lebensmitteln, die mit der Seilbahn heraufgebracht werden, kann gekocht werden. Geschwind einmal einkaufen oder etwas holen, um den eigenen Gusto zu stillen, geht nicht.

Kein Urlaub, ein Arbeitsprojekt
Der Almaufenthalt ist nicht als Urlaubsprojekt konzipiert, das heißt, es wird früh aufgestanden, der Tag eingeteilt und gearbeitet. Je nach Arbeitsbereich gestalten sich die Pausenzeiten und das Mittag- und Abendessen. An manchen Tagen wird im Feld Pause gemacht und gegessen, an anderen Tagen in der Hütte am Tisch. Die Arbeitszeiten werden für die jungen Leute individuell eingeteilt, wobei am Beginn nur wenige Stunden und körperlich leichtere Arbeiten vorgesehen sind. Der Spaß bei der Arbeit darf selbstverständlich auch nicht fehlen: vom Rutschen auf Schneefeldern bis zum Baden im Gebirgsbach ist alles dabei.

Die Abende sind genauso unterschiedlich wie die Gruppen gestaltet: einfache Spiele, Steine bemalen, Gespräche führen und einfach nur stillsitzen und die Sterne beobachten. Im zweiten Jahr hatten wir eine junge Frau, für die es abends ein Ritual war, sich mit ihrem Kopf auf meinen Oberschenkel zu legen und mir beim Vorlesen von Geschichten zuzuhören. Sie hatte das aus ihrer Kindheit nicht gekannt. Zwei andere tranken jeden Abend, egal bei welchem Wetter, auf der Terrasse gemeinsam Tee und gingen dann schlafen.

Da das Projekt durch einen zusätzlichen Betreuer der Einrichtung, vom Jokerhof Tollet, begleitet wird, ist manchmal ein 1:1-Setting und manchmal auch notwendig, da in der Stille und Ruhe der Alm, ganz ohne Ablenkung, vieles „hochkommen“ kann. Spaziergänge und kurze Wanderungen in die Umgebung dürfen allein gemacht werden, es ist nur wichtig, dass die Richtung und die ungefähre Dauer mitgeteilt werden.

Nach zehn Tagen stellt sich Veränderung ein
Wir stellen fest, dass das „Ankommen“ auf der Alm für die Jugendlichen nahezu zehn Tage dauert, bis sie mit der Hütte so vertraut sind und sie sich wohl fühlen. Nach diesen zehn Tagen spürt man eine Veränderung. Das Handy ist nur noch selten Thema, Fernsehen und andere Ablenkungen sind kein Thema mehr.

Zum dritten Mal Jugendliche auf der Alm
Das Projekt findet 2023 zum dritten Mal statt. Jedes Jahr mit anderen Jugendlichen und jedes Jahr in einer anderen Art. Im ersten Jahr war sehr vieles möglich. Zwei der vier Teilnehmenden kannten wir noch aus unserer Zeit am Jokerhof. Die Gruppe war sehr aktiv und handwerklich interessiert. Egal ob Küche oder draußen, es wurde überall mitangepackt und geholfen. Manches wurde versucht, manches gelang, manches nicht. Aber es zählte der Wille und manchmal der Mut etwas Neues zu wagen. Da wir feste Regeln haben, war es im ersten Jahr dann nach zehn Tagen so weit, dass eine Jugendliche die Gruppe und somit die Alm verlassen musste. Sie beteiligte sich nicht mehr am täglichen Programm, blieb im Bett und wollte nichts mehr mit dem Projekt zu tun haben. Der Rest der Gruppe beschloss darauf, dass es für die restlichen Tage besser wäre, wenn sie die Alm verlässt. Sie wurde von der Betreuerin nach Hause gefahren und die restlichen Tage konnten wieder genossen werden.

Im zweiten Jahr waren die Jugendlichen vorsichtiger und unsicherer, aber auch da machte sich nach ca. zehn Tagen eine große Veränderung bemerkbar. Das Übervorsichtige wich der Neugier und dem Willen dabei zu sein. Die Gruppe entwickelte sich sehr gut. Als sich ein Teilnehmer leider verletzte und mit dem Hubschrauber abtransportiert werden musste, war der Zusammenhalt sehr gut spürbar. Für die Verbleibenden war klar, dass sie weiter machen wollten.

Heuer, im dritten Jahr, waren die Gruppenmitglieder sehr unterschiedlich und ihre Vorstellungen von der Almzeit gingen sehr weit auseinander. Das erschwerte unsere Tätigkeit immens. Die einen waren motiviert und gewillt mitzuarbeiten, die anderen empfanden den Almaufenthalt als Urlaubs- und nicht als Arbeitsprojekt. Aber auch das wurde gemeinsam gemeistert und die gesamte Gruppe konnte die drei Wochen gut abschließen.

Die Natur und die Alm wirken auf die Jugendlichen
Es ist faszinierend, wie die Natur und das einfache Leben auf der Alm bei den Jugendlichen wirken. Sie öffnen sich, erzählen und hören zu. Wir können den Teilnehmenden keine Ratschläge geben, denn Ratschläge sind auch Schläge, so heißt es in der Pädagogik. Wir zeigen ihnen, wie es

  • ohne sozialen Medien,
  • ohne Dauerbeschallung und
  • Ablenkung funktioniert,
  • im Alltag zurecht zu kommen,
  • sich mit einfachen Mitteln zu versorgen und
  • mit dem leben, was man hat.

So ist es für uns ein absolut großartiges Projekt, das zwar noch in den Kinderschuhen steckt, aber jedenfalls weitergeführt werden soll.

Wir werden häufig gefragt, ob wir meinen, dass diese wenigen Wochen tatsächlich eine Wirkung auf die Jugendlichen haben. Unsere Antwort darauf: „Wenn sich in den jungen Menschen etwas bewegt, sei es sofort oder irgendwann einmal, so hat dieses Projekt seine absolute Berechtigung. Wenn ein junger Mensch ohne ständige Ängste durchs Leben gehen kann, dann machen diese fünf Wochen eine ganze Menge aus. Wenn ein schnell aufgebrachter junger Mensch eine Möglichkeit entwickelt sich abzuregen, eine Methode findet, um aufgewühlte Gefühle wieder in den Griff zu bekommen, so ist das für ihn und sein Umfeld ein großer Fortschritt.“

Reaktionen der Teilnehmenden

  • Cecile: „Auf der Alm muss man immer weit gehen, bis man jemanden trifft und trotzdem besuchen sich die Menschen. Sie brauchen kein Handy um etwas auszumachen, sie kommen einfach vorbei.“
  • Marcel: „Wenn ich in meinem Bauch Wut gespürt habe, bin ich zum Bach gegangen und der kümmerte sich drum.“
  • Martin: „Ich mag einfach da bleiben. Auf der Alm ist es so ruhig und die Natur ist so schön.“
  • Niklas: „Normalerweise schau i nur auf mi, aber jetzt schau i auf olle.“
  • Tina: „Das Wandern mit Martin war so schön. Ich habe eine halbe Stunde Gucker geschaut und viele Details gesehen, die man mit dem bloßen Auge nicht sehen kann.“
  • Stefanie: „Ich habe gemerkt, dass die Angst meistens nur in meinem Kopf war, aber ich muss gar nicht so viel Angst haben – dann ist alles viel einfacher und lustiger.“
  • David: „Es fehlt jetzt etwas – es ist schwer zu sagen, was das ist, aber es liegt ganz fest in meinem Herzen. Vielleicht die Entspannung in der Natur. Ich denke auf jeden Fall sehr gerne zurück; Sonja und Martin fehlen mir.“

Fotos: Sonja Zauner, Martin Traunmüller

Almerinnen und Almer, Sennerinnen und Senner, Hirten und Hirtinnen erzählen von der Liebe zur Alm

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